interview

DigiLab – der Digital-Enabler diskreter Fertigungsapplikationen

In Zeiten globaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit hat sich u. a. auch für die Bereiche F&E, Fertigung und Produktion die industrielle Digitalisierung als probates Mittel erwiesen, aktuellen Herausforderungen nachhaltig die Stirn bieten zu können. Diesem Anspruch folgend, eröffnete Siemens 2020 das DigiLab in Wien und bietet damit eine Experten-Drehscheibe für alle Industrieunternehmen, um digitale Innovationen voranzutreiben. Was als verheißungsvolles Projekt gestartet wurde, hat sich in eineinhalb Jahren in vielen Applikationen unter Beweis gestellt und erzeugt heute Push-Effekte über die gesamte Wertschöpfungskette, wissen Head of Factory Automation CEE Siemens Manfred Brandstetter, Head of Technical Consultants Siemens Lukas Gerhold und Martin Feischl, Head of Edge & AI Deployment Team Siemens, x-technik AUTOMATION zu berichten. Das Gespräch führte Luzia Haunschmidt, x-technik

Manfred Brandstetter, Head of Factory Automation CEE Siemens.

Manfred Brandstetter, Head of Factory Automation CEE Siemens.

Statement zum Siemens-Digitalisierungsprojekt von Filip Siroky, Datenwissenschaftler beim CERN

Dieses Projekt wurde im Rahmen der öffentlich-privaten Partnerschaft CERN openlab durchgeführt. Für das Digitalisierungsforschungsprojekt unseres Teilchenbeschleunigers LHC sammelten wir Live-Streaming-Daten von Hunderten Sensoren über ein proprietäres Protokoll, wandelten es in ein offenes Netzwerkprotokoll für Machine-to-Machine-Kommunikation – dem MQTT – um, und leiteten es an den Edge-Knoten weiter, der die Vorhersage durchführt. Wenn dieser einen Wartungsbedarf feststellt, sendet er eine Benachrichtigung an unser SCADA-System.

Dafür brauchten wir nur ein paar Debugging-Sitzungen, um die Konfiguration korrekt zu bewerkstelligen – mit dem Effekt, dass ich nun mein Jupiter-Notebook mit ein paar Klicks auf dem Edge neu bereitstellen kann. Als Datenwissenschaftler weiß ich das wirklich zu schätzen, denn es hilft mir, mich auf meine eigentlichen Aufgaben zu konzentrieren, statt an der Infrastruktur, der Integration und den Protokollen herumzubasteln.

Bei diesem Projekt hat uns Siemens bei der Implementierung unserer vorausschauenden Wartung auf Edge-Basis unterstützt. Darüber hinaus erhielten wir von Siemens einen reibungslos integrierten Software-Stack und eine zuverlässige Hardware-Plattform. Derart konnten wir uns auf die eigentlichen Machine-Learning-Probleme konzentrieren und die Zeit bis zum Erreichen eines durchgängig integrierten Systems erheblich verkürzen.

Herr Brandstetter, was dürfen sich produzierende Unternehmen unter Ihrem DigiLab vorstellen?

Manfred Brandstetter: Das DigiLab auf unserem Siemens-Standort in Wien dient als Technologie- und Innovationsdrehscheibe für unser Digital Enterprise Offering. Wir haben hier den großen Vorteil, dass wir neben unseren Branchen- und Technologieexperten auch Kollegen aus der Forschung und aus unserer lokalen Produktion zu Kundengesprächen hinzuziehen können. Darüber hinaus haben wir im DigiLab eine reale Produktionsmaschine in Betrieb, auf der wir gemeinsam mit unseren Kunden Use Cases aus dem Digitalisierungsbereich diskutieren und konkret umsetzen. Der Digitale Zwilling entlang der kompletten Wertschöpfungskette wird hier angreifbar, erlebbar und Kunden können im Zuge der Workshops ihre nächsten individuellen Digitalisierungsschritte mit uns definieren und umsetzen.

Siemens Industrial Edge bringt die Vorteile der Cloud auf die Feldebene.

Siemens Industrial Edge bringt die Vorteile der Cloud auf die Feldebene.

Welche typischen Kunden nutzen dieses Angebot und kommen ins DigiLab?

Manfred Brandstetter: Im Grunde sind es drei verschiede Arten von Unternehmen, die uns im DigiLab besuchen. Einerseits lokale, produzierende Unternehmen, die ihre Fertigung optimieren und digitalisieren wollen. Weiters Maschinen- und Anlagenbauer, die global ihre Lösungen vermarkten und neue Ansätze für ihre Digitalisierungsstrategie suchen bzw. diese konkret umsetzen wollen. Nummer drei sind Systemintegratoren, die die Erstgenannten bei der Umsetzung unterstützen, beraten bzw. diese zum Teil übernehmen.

Datenwissenschaftler des CERNs entwickelten gemeinsam mit der Siemens-Technology-Gruppe sowie einem KI-Team – basierend auf den vom CERN gewonnenen Sensordaten, die über das DigiLab gefiltert werden – ein Edge Device für ein präventives Maintenance-Programm.

Datenwissenschaftler des CERNs entwickelten gemeinsam mit der Siemens-Technology-Gruppe sowie einem KI-Team – basierend auf den vom CERN gewonnenen Sensordaten, die über das DigiLab gefiltert werden – ein Edge Device für ein präventives Maintenance-Programm.

Kommen die DigiLab-Interessenten zum Erstgespräch bereits mit konkreten Projekten oder wollen sich diese vorab eher allgemein informieren?

Manfred Brandstetter: Das ist unterschiedlich. Einige Kunden haben eine sehr allgemeine Idee, das Thema Digitalisierung für sich zu nutzen und sind auf der Suche nach möglichen Use Cases für ihr Unternehmen. Dann gibt es Kunden mit sehr konkreten Projekten, die die beste Plattform für ihre Implementierung suchen.

Lukas Gerhold, Head of Technical Consultants Siemens.

Lukas Gerhold, Head of Technical Consultants Siemens.

Wie dürfen sich Ihre Kunden den Ablauf zu einer Optimierung ihres Fertigungsprozesses über das DigiLab vorstellen?

Lukas Gerhold: Im Laufe des letzten Jahres haben wir rund um unser DigiLab-Angebot ein Projektteam gegründet, mit dem Ziel, konkrete Digitalisierungslösungen aufzubauen und umfassend betreuen zu können. Typischer Beginn eines Projekts ist, dass unsere Kunden, die uns aus der Automatisierungstechnik kennen, auch unser Digitalisierungsangebot wahrnehmen. Diese Interessenten laden wir zum Besuch des DigiLabs ein, um ihre eigenen Digitalisierungsprojekte mit uns hinsichtlich ihrer Prozesse, spezifizierten Anliegen und Herausforderungen zu beleuchten. In einem ersten gemeinsamen Hackathon werden dazu passende Soft- und Hardwarelösungen – basierend auf Automatisierungs-, Edge-, IoT- und Cloud-Technologien erweitert mit Künstlicher Intelligenz – erörtert, welche die jeweilige Applikation schrittweise optimieren können. Unter unserer Anleitung lernen die Kunden die Digitalisierungstechnologien kennen und lassen ihre eigene Software auf unserem System durchlaufen. Nachdem die technische Hürde genommen worden ist, wird anschließend über Datenaustausch, Effizienzsteigerung, Verbesserung der Qualität und des Automatisierungsprozesses diskutiert und mögliche Potenziale für weitere Projekte identifiziert.

Siemens Inventory App Version 2 für Bestandsaufnahme.

Siemens Inventory App Version 2 für Bestandsaufnahme.

Wie sieht dazu die Basisarbeit beispielsweise aus?

Lukas Gerhold: Zuerst arbeiten wir daran, sämtliche analogen Gaps zu identifizieren. Was heißt, dass wir alle Informationen in der Maschine und auch deren extern dazu existierenden Daten aus angebundenen Geräten der Feldebene analysieren. Dabei untersuchen wir, inwieweit diese Daten einen Mehrwert für den Automatisierungsprozess oder einen Geschäftsprozess haben können und noch nicht genutzt werden. Ein erster notwendiger Schritt zur Verbesserung ist das kontextbasierte Zusammenführen der Daten z. B. in Abhängigkeit des zu produzierenden Produkts. Oft besteht die Anforderung, die so gewonnenen Informationen anschließend zu strukturieren, Datenmodelle zu erstellen und zu visualisieren, um einen Performance-Zwilling zu erhalten. Im nächsten Schritt wird im Experten-Team beratschlagt, was man beispielsweise mit Hilfe von KI und anderen Algorithmen basierend auf den vorhandenen Daten auf der Maschine bzw. Anlage optimierend automatisieren könnte.

Digital Twin App von Siemens.

Digital Twin App von Siemens.

Welche Optimierungspotenziale werden über das DigiLab hauptsächlich gehoben und welche davon werden vorzugsweise von Ihren Kunden genutzt?

Lukas Gerhold: Die wesentlichsten bzw. gängigsten Enabler finden sich in der Qualitätssicherung, in der Performance-Steigerung von Produktions- und Fertigungsprozessen, der Kreation und Optimierung von Maintenance-Konzepten bis hin ins Engineering, um dieses über den gesamten Lifecycle von Produktentwicklungen effizienter zu gestalten. Auch Fernzugriffe auf Maschinen und Anlagen, die rund um die Welt verstreut sind, können mittels Apps und Cloud-Connectivity als neue Geschäftsmodelle für OEMs wie auch zur Eigenverwaltung ermöglicht werden. Damit kann aber auch z. B. ein Maschinendesign laufend verbessert werden. Oder man geht noch einen Schritt weiter und kreiert komplett neue Geschäftsmodelle hinsichtlich der Finanzierung von Maschinen auf Leasing-, Pacht- oder Teilnutzungsebene.

Martin Feischl, Head of Edge & AI Deployment Team Siemens.

Martin Feischl, Head of Edge & AI Deployment Team Siemens.

Aus welchen Branchen kommen dazu Ihre Kunden? Und können Sie unseren Lesern dazu einige Applikationsbeispiele nennen?

Martin Feischl: Unsere Kunden kommen für Digitalisierungslösungen aus unterschiedlichen Branchen und Sparten. Das sind beispielsweise Unternehmen sowohl aus der Software- als auch aus der Automatisierungstechnik-Branche, die für unsere Edge Devices eine eigene App in unserer High-End-Testumgebung entwickelt haben.

Ein Projekt stammt aus der österreichischen Stahlbranche im Bereich der Fertigungs- und Produktionsindustrie. In diesem Fall hat der Anwender seine bislang wenig intelligenten Bearbeitungsmaschinen mit zusätzlichen Sensoren ausgerüstet und deren elektrischen Signale mit Siemens-Hardware gesammelt. Die daraus gewonnenen Daten wurden vor Ort beim Anwender über das Siemens Industrial Edge Device aggregiert, analysiert und schlussendlich an die Cloud übergeben. Mit einer eigenen App kann das Unternehmen nun jene Maschinendaten, die ihm z. B. für einen Predictive Maintenance-Ansatz nützlich sind, verwerten. Der Datenstrom konnte über die lokale Vorverarbeitung auf der Edge-Ebene wesentlich reduziert und somit Kosten auf der Cloud-Ebene reduziert werden. Gleichzeitig bietet unsere Management Plattform „Siemens Industrial Edge Management“ dem Kunden die Möglichkeit, sowohl Firmware- und Security-Updates als auch Updates seiner eigenen App zentral von einem Punkt auf die weltweit verteilten Edge Devices auszurollen.

Apps für verschiedene Anwendungen.

Apps für verschiedene Anwendungen.

Welche Erfahrungen wurden bei der Implementierung von Digitalisierungsprojekten im DigiLab bisher gemacht?

Martin Feischl: Ein entscheidender Punkt ist die Konnektivität zu den Maschinen und Anlagen, ohne sicherheitsrelevante und kritische Automatisierungsprozesse zu beeinflussen. Dazu ist neben einem exzellenten Know-how über die Netzwerk- und Automatisierungstechnik auch Branchenexpertise von großem Vorteil. Wir sehen uns oft auch als Moderator zwischen den IT- und OT-Abteilungen in Unternehmen, da meist beide Bereiche in den Projekten involviert sind. Ein klarer Trend zeichnet sich in Richtung Nutzung von Standards und offenen Schnittstellen ab, die die Zusammenarbeit fördern. Gerade bei Edge/IoT-Projekten gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichsten Maschinen und Anlagen zu integrieren, deren Interface aber vorher standardisiert wird. Wir leben in einer Zeit der Ökosysteme, wo Firmen gleichzeitig Partner, Kunde, Lieferant und auch Mitbewerber sind. Mit dieser Komplexität müssen wir umgehen lernen und Kooperation über Unternehmensgrenzen hinaus ist ein entscheidender Faktor.

Selbstverständlich kooperieren wir auch mit Startups und zahlreichen Forschungsinstituten wie z. B. das CERN. Für die europäische Organisation für Kernforschung ist ein interessantes Edge-Projekt im DigiLab entstanden.

Das klingt besonders spannend! Können Sie uns Näheres zum CERN-Projekt erzählen?

Lukas Gerhold: Unsere Zusammenarbeit mit dem CERN ist tatsächlich eines unserer interessantesten Projekte, welches wir im DigiLab abwickeln durften. Die europäische Organisation für Kernforschung mit Sitz Nähe Genf an der französisch-schweizerischen Grenze, beherbergt mehrere Experimentiereinrichtungen, darunter den Large Hadron Collider, einen 27 km langen Ring aus supraleitenden Magneten und Stützstrukturen. Dazu verfügt die Organisation über einen der höchsten Sicherheitsstandards der Welt – hat einen eigenen Feuerwehr- und Rettungsdienst und nutzt die neuesten Technologien, um den Zustand ihrer Einrichtungen kontinuierlich zu überwachen. Die Fortschritte im Bereich des maschinellen Lernens ermöglichen es nun, die Grenzen der betrieblichen Effizienz durch vorausschauende Wartung zu erweitern – und mit Unterstützung von Siemens Industrial Edge wird es nun ermöglicht, solche Anwendungen in die Produktion zu bringen.

Martin Feischl: Im Detail geht es im CERN-Projekt um deren weltweit größten Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadron Collider), dessen supraleitenden Magnete per Helium gekühlt werden. Mögliche Helium-Leckagen im Collider müssen aus Sicherheitsgründen so schnell wie möglich gefunden werden. Dafür wurden im Tunnel Hunderte Sensoren zur Messung des Sauerstofflevels installiert. Diese Sensoren verfügen allerdings in harscher Umgebung über eine nur kurze Lebensdauer, da sie leicht oxidieren und dies einen Fehlalarm auslösen kann. Um solche Fehlalarme zu vermeiden, müssen die Sensoren regelmäßig gereinigt werden, was angesichts der Größe des Tunnels und der Masse der Sensoren eine kostspielige Angelegenheit ist.

Die Herausforderung dazu war die örtliche Distribution der Hunderten Sauerstoffsensoren im gesamten Tunnel. Mittels Edge Computing können wir genau diese Sensorverteilungen exakt orten und auch direkt im Feld deren Informationen und Auswertungen vornehmen.

Hierzu setzten die Datenwissenschaftler des CERN mit der Siemens-Technology-Gruppe sowie einem KI-Team an und entwickelten dazu – basierend auf den vom CERN gewonnenen Sensordaten – eine Edge Applikation für ein präventives Maintenance-Programm. Dieses hat zum Ziel, den Eintritt des Alterungsprozesses jedes einzelnen Sauerstoffsensors früh anzukündigen, um dessen Austausch bzw. Reinigung rechtzeitig vornehmen zu können. Damit lassen sich künftig unnötige Fehlalarme und die damit verbunden Kosten verhindern.

Das ist de facto eine Digitalisierungsstory der Extraklasse! Herzlichen Dank für Ihre informativen Ausführungen!

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