anwenderreportage

Pilz PSS 4000-R: Sichere Steuerungsintelligenz am Zug

Lösen, Anlegen, Lösen. Die Bremsprobe bei Güterzügen hat strikt nach Protokoll zu erfolgen. Das bedeutet für das Rangierpersonal, dass es bei Wind und Wetter, zumeist mitten in der Nacht, drei kontrollierende Rundgänge zu absolvieren hat, um mit einem speziellen Hammer oder auch mit purer Beinkraft den Zustand der Bremsen zu prüfen. Ein mühseliges Prozedere, das in Summe rund 45 Minuten dauert. Mit der automatischen Bremsprobe von PJM ist das Ganze in einem Bruchteil dieser Zeitspanne erledigt. Die dafür nötige sichere Steuerungsintelligenz wird von einem bahntauglichen PSS 4000-System des Safety- und Industrial Security-Spezialisten Pilz eingebracht.

Mit der automatischen Bremsprobe erhält der Lokführer innerhalb weniger Minuten eine zuverlässige Information darüber, ob sein Zug tatsächlich startklar ist.

Mit der automatischen Bremsprobe erhält der Lokführer innerhalb weniger Minuten eine zuverlässige Information darüber, ob sein Zug tatsächlich startklar ist.

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Aufgabenstellung: Die Automatisierung eines sicherheitsrelevanten Betriebsprozesses – der regelmäßig durchzuführenden Bremsprobe – bei Güterzügen.

Lösung: Gemeinsam mit PJM entwickelte Pilz eine Komplettlösung bestehend aus u. a. PSS 4000-R Hardware und TÜV-zertifizierter Applikationssoftware, die sogar als europäisches Referenzsystem für eine funktionierende automatische Bremsprobe dient.

Nutzen: Ein zuverlässiges, sicheres, vom TÜV abgenommenes Gesamtsystem, das aber dennoch bei gewissen Parametern an unterschiedliche Waggon- sowie Bremstypen anpassbar ist. Nachträgliche Erweiterbarkeit des Systems über bahntaugliche Ein- und Ausgangsmodule. Künftige Use Cases wie die elektrische Handbremse oder die digitale automatische Kupplung wurden bereits mitbedacht.

Die Mitgliedsstaaten der EU verfolgen ein ambitioniertes Ziel. Sie wollen Europa bis 2050 zu einem klimaneutralen Kontinent machen. Eine der wichtigsten umweltpolitischen Maßnahmen, die im Rahmen dieses sogenannten Green Deals verfolgt wird, besteht darin, den Güterverkehr vermehrt auf die Schiene zu bringen. Denn mit einem Marktanteil von mehr als 70 % ist derzeit eindeutig die Straße der meist genutzte Verkehrsträger beim gewerblichen Transport von Waren. Um hier eine Kursänderung Richtung Bahn in Bewegung zu setzen, gelte es laut Günter Petschnig vor allem auch, an der Effizienzschraube zu drehen: „Viele Betriebsprozesse im Eisenbahnbereich bestehen bereits seit 100 Jahren in nahezu unveränderter Form. Das kostet viel Zeit und personelle Ressourcen. Letztere stehen aufgrund der demografischen Entwicklung aber immer weniger zur Verfügung“, weiß der Mitbegründer eines Unternehmens, das in einem seiner beiden Hauptgeschäftsfelder die Automatisierung des Schienengüterverkehrs aktiv vorantreibt.

Während die PJ Messtechnik GmbH für die Entwicklung bahntauglicher Sensorik, für aussagekräftige FE-Berechnungen und Mehrkörpersimulationen sowie als Prüfstelle für Schienenfahrzeuge bekannt ist, erlangte der zweite Teil von PJM, die PJ Monitoring GmbH, mit innovativen Lösungen wie dem Monitoringsystem Waggon Tracker oder einer automatischen Ladegewichtsüberwachung internationale Bekanntheit. Außerdem gibt es seit Kurzem noch eine weitere technologische Errungenschaft, mit der die Grazer weltweit von sich reden machen: die automatische Bremsprobe. Die Art und Weise, wie PJM diesen bis dato mit einem extrem hohen manuellen Aufwand verbundenen Betriebsprozess weitaus einfacher effizienter regelt, wurde vom TÜV Süd nicht nur mit einem positiven Gutachten abgesegnet, sondern sogar in den Status eines europäischen Referenzsystems erhoben. „Wir haben mit diesem Projekt absolutes Neuland betreten. Es gibt nichts Vergleichbares. Demzufolge sahen sich selbst die Zulassungsstellen mit Dingen konfrontiert, die sie so nicht kannten“, betont Günter Petschnig, dass hier wirklich Pionierarbeit geleistet wurde – und zwar von allen Beteiligten.

V.l.n.r.: Jörg Peßl und Christoph Lorenzutti gewähren einen Blick in die Steuerungstechnik-Box, die in geschlossenem Zustand außen an den Güterwaggons montiert wird.

V.l.n.r.: Jörg Peßl und Christoph Lorenzutti gewähren einen Blick in die Steuerungstechnik-Box, die in geschlossenem Zustand außen an den Güterwaggons montiert wird.

Günter Petschnig
Mitbegründer und Geschäftsführer der PJ Monitoring GmbH und der PJ Messtechnik GmbH

„Mit der automatischen Bremsprobe leisten wir einen wesentlichen Beitrag zu einer deutlichen Effizienzsteigerung im Güterverkehr. Gemeinsam mit der Firma Pilz ist es uns gelungen, den Zeitaufwand für diesen sicherheitsrelevanten Teil der Zugvorbereitung von einer Dreiviertelstunde auf rund fünf Minuten zu verkürzen.“

Lösungspartner mit Railway-Kompetenz

Bisher scheiterte die Automatisierung des Güterverkehrs hauptsächlich an der fehlenden Energieversorgung. „Ein Zugverbund setzt sich typischerweise aus 25 bis 30 Waggons zusammen, deren technische Ausstattung je nach Wagentyp, Herkunft sowie Alter erheblich variieren kann. Strom gibt es ebenfalls keinen an Bord“, beschreibt Christoph Lorenzutti, COO der PJ Monitoring GmbH, eine an sich ziemlich herausfordernde Ausgangssituation, die die Grazer aber maximal als Ansporn sehen. Schließlich bündeln sie die entsprechenden Kompetenzen im eigenen Haus: Sie fertigen Radsatzgeneratoren, die den benötigten Strom erzeugen; verfügen dank eines früheren zusätzlichen Betätigungsfelds im Motorsport über das Know-how, wie Echtzeitdaten von Fahrzeugen zuverlässig sowie sicher über Funk auf Tablets, Monitore, Handys etc. zu transferieren sind; und direkten Zugriff auf eine robuste Sensorik, die hohen Geschwindigkeiten, starken Vibrationen, Hitze, Kälte und anderen widrigen Umwelteinflüssen erfolgreich trotzt, haben sie ebenfalls. Einzig für die sicherheitsrelevanten Themen holte man Expertise von außen hinzu. „Mit der Firma Pilz wurde ein kompetenter Spezialist für Safety- und Industrial Security-Fragen gefunden, dem der Umweltschutz genauso ein Anliegen ist wie uns, weshalb das gesamte Team – von der deutschen Geschäftsleitung in Person von Susanne Kunschert beginnend bis hin zu unseren Hauptansprechpartnern hier in Österreich – stets sehr bereitwillig und agil auf unsere Anliegen einging“, lobt Günter Petschnig. Ein weiterer Bonus, den die Zusammenarbeit mit den „Botschaftern der Sicherheit“ mit sich brachte: Pilz ist schon seit Längerem im Bahnbereich aktiv und führt demnach mehrere Produkte im Portfolio, die für dieses Marktsegment zugelassen sind. Mittlerweile wurde sogar eine eigene Business Unit Rail gegründet, um diesen Geschäftszweig zu forcieren.

Dank Automatisierung ist ein ordnungsgemäß durchgeführter Bremsencheck bei einem 500 m langen Güterzug in fünf Minuten erledigt.

Dank Automatisierung ist ein ordnungsgemäß durchgeführter Bremsencheck bei einem 500 m langen Güterzug in fünf Minuten erledigt.

Eine Fail-Safe-Analogverwertung, eine Fail-Safe-Programmierung in der Programmiersprache Strukturierter Text, eine waggontypgerechte Applikationsparametrierung, rollenbasierte Anwenderberechtigungen – PSS 4000-R bietet all dies und noch viel mehr.

Eine Fail-Safe-Analogverwertung, eine Fail-Safe-Programmierung in der Programmiersprache Strukturierter Text, eine waggontypgerechte Applikationsparametrierung, rollenbasierte Anwenderberechtigungen – PSS 4000-R bietet all dies und noch viel mehr.

Christoph Lorenzutti
COO der PJ Monitoring GmbH

„Bei diesem Projekt ging es nicht nur um den Kauf einer Hardware. Ganz im Gegenteil: Mit vereintem Know-how konzipierten wir eine ausgeklügelte Komplettlösung, die zwar auf einem 'eingefrorenen' Softwarestand basiert, die aber dennoch an unterschiedliche Wagentypen und zusätzliche Erfordernisse anpassbar ist.“

Ein (un)typischer Fall für die PSS 4000-R

Obwohl die Railway-Version (R) des modular aufgebauten Automatisierungssystems PSS 4000 von Pilz mehreren relevanten Bahnnormen für Sicherheitsaufgaben nach SIL 2, 3 und 4 entspricht, ist dessen Einsatz auf Güterwaggons dennoch alles andere als ein typischer Anwendungsfall. „An sich wurde diese Lösung für die Railway-Infrastruktur konzipiert. Wir hatten ursprünglich gar nicht vor, damit auf die Schiene zu gehen. Das PJM-Projekt führte allerdings zu einem strategischen Umdenken“, erinnert sich Jörg Peßl, Leiter der Grazer Niederlassung von Pilz, an die ersten Sondierungsgespräche zwischen den beiden Unternehmen. „Günter Petschnig schilderte seine Visionen von einem konkurrenzfähigen, zukunftsfähigen Schienengüterverkehr, der sich zunehmend auf automatisierte Betriebsprozesse stützt und Christoph Lorenzutti übersetzte diese Vorstellungen von der Funktionsweise einer automatischen Bremsprobe oder einer digitalen automatischen Kupplung (DAK) in technische Anforderungen“, fügt er ergänzend hinzu, wobei er zwischen den Zeilen eines andeutet: Dass hier mit 08/15-Antworten nichts zu „gewinnen“ war. Stattdessen wurden der Einfallsreichtum und die Lösungskompetenz des System Integration Teams von Pilz immer wieder bis zum Anschlag ausgereizt.

„Bei den zu erfassenden Messbereichen bewegten wir uns in Sphären, die wir fast nicht mehr rechnen konnten, weil sie weit unter dem lagen, was wir aus der Industrie gewohnt sind. Außerdem mussten wir mit fließenden Sicherheitsfenstern operieren, um dem Bremsverhalten der unterschiedlichen Waggontypen gerecht zu werden“, geht Jörg Peßl ins Detail. In Summe brauchte es 230 Seiten, um sämtliche systemischen Voraussetzungen, die eine automatische Bremsprobe zu erfüllen hat, schriftlich auszuführen. Und alleine die Dokumentation für den sicherheitsrelevanten Part des Gesamtsystems war letztendlich rund 10.000 Seiten stark. Aber dieser Aufwand habe sich definitiv gelohnt, zeigen sich Petschnig, Lorenzutti und Peßl einig. Schließlich wurde mit vereinten Kräften eine neue, zeitgemäße Ära in der Schienengüterverkehrswelt eingeläutet.

Für Bahnanwendungen gibt es die Kopfmodule des Automatisierungssystems PSS 4000 auch mit M12-Schnittstelle.

Für Bahnanwendungen gibt es die Kopfmodule des Automatisierungssystems PSS 4000 auch mit M12-Schnittstelle.

Um die Wetterbeständigkeit der eingesetzten Industrieelektronik unter extremen Bedingungen auszutesten, wurde eine Klimakammer genutzt.

Um die Wetterbeständigkeit der eingesetzten Industrieelektronik unter extremen Bedingungen auszutesten, wurde eine Klimakammer genutzt.

V.l.n.r.: Jörg Peßl und Christoph Lorenzutti gewähren einen Blick in die Steuerungstechnik-Box, die in geschlossenem Zustand außen an den Güterwaggons montiert wird.

V.l.n.r.: Jörg Peßl und Christoph Lorenzutti gewähren einen Blick in die Steuerungstechnik-Box, die in geschlossenem Zustand außen an den Güterwaggons montiert wird.

Jörg Peßl
Leiter der Grazer Niederlassung von Pilz

„Rein nach dem Lastenheft beurteilt hätten wir dieses Projekt absagen müssen. Aber wir verschoben die Grenzen des Machbaren und schufen gemeinsam mit PJM eine auf PSS 4000 basierende Lösung, die nicht nur abgenommen und zugelassen wurde vom TÜV Süd, sondern die nun sogar als europäisches Referenzsystem dient.“

Zuverlässiges digitales Kontrollorgan

Eine Bremsprobe auf herkömmliche Art dauert je nach Zuglänge zwischen 30 und 45 Minuten. Um einen der Eisenbahnverordnung (EisbBBV in Ö, EBO in D, EBV in CH) entsprechenden gelösten bzw. angelegten Zustand der Bremsen zu erheben, muss das Rangierpersonal jeden abfahrbereiten Güterzug mit seinen meist zwischen 25 und 30 Waggons dreimal komplett umrunden. Nun lässt sich dieses mühselige Prozedere ganz bequem vom Lokführerstand oder auch vom Bahnsteig aus per Touch erledigen. Als Kontrollorgan fungiert dabei die Technik. Über eine waggontypgerechte Sensorik und das Automatisierungssystem PSS 4000-R mit seinen ebenso bahntauglichen Ein-/Ausgangsmodulen werden definierte Endpositionen, gewisse Kräfte sowie – natürlich ganz wichtig – der Bremszylinderdruck erfasst. Diese neu hinzugefügte Funktionalität in der WaggonTracker-Plattform sei aber nur ein kleiner Vorgeschmack darauf, was die Grazer mit ihrem patentierten Monitoringsystem sonst noch alles vorhaben in Zukunft. Denn Günter Petschnig liebäugelt bereits mit weiteren attraktiven Automatisierungsangeboten für den Schienengüterverkehr. „Das ist jetzt einmal ein erster Schritt, aber wir haben noch viele Themen, die wir gemeinsam mit Pilz angehen wollen“, verkündet er. Nun, die dafür notwendigen technologischen Weichen sind gestellt. „Wir haben ein zugelassenes System, das sich bei der SBB Cargo bereits im Einsatz befindet. Darauf können wir aufbauen und beispielsweise eine digitale automatische Kupplung aus der Ferne oder ein permanentes Monitoring aller Feststell- und Druckluftbremsen während der Fahrt realisieren. Damit ließe sich u. a. sicherstellen, dass nach einem Halt bei roten Signalanlagen nicht zu früh mit noch schleifenden oder ungelösten Bremsen im hinteren Zug-Bereich losgestartet wird“, blickt Christoph Lorenzutti abschließend in die Zukunft.

Infos zum Anwender

PJM wurde im Jahre 2006 von Martin Joch und Günter Petschnig als Spin-off der TU Graz gegründet. Der mittlerweile Komplettanbieter für den Schienenverkehr ist in zwei Geschäftsbereichen weltweit tätig: Die PJ Messtechnik GmbH führt als akkreditierte Messstelle Messungen, Tests und Analysen im Bereich der Fahrzeugzulassung durch. Außerdem zählt sie in den Bereichen Konstruktion, Engineering, FE-Berechnung und Mehrkörpersimulation zu den führenden Experten. Und die PJ Monitoring GmbH treibt mit zukunftsweisenden Lösungen wie dem WaggonTracker oder einer intelligenten Ladegewichtsüberwachung die Automatisierung des Schienengüterverkehrs voran. www.pjm.co.at

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