interview

Schunk JL1: Greifer reagiert situationsabhängig

Dank intelligenter Sensorik handelt der Co-act Greifer JL1 von Schunk umsichtig und wohlüberlegt: Die aktuell vorherrschenden Situations-, Umgebungs- und Einsatzbedingungen werden über mehrere „Sinne“ aufgenommen, bewertet und kommuniziert. Wie dies im Detail funktioniert und was Schunk mit dem JL1 sonst noch so alles in naher Zukunft vor hat, erfragte x-technik AUTOMATION bei Prof. Dr.-Ing. Markus Glück, Geschäftsführer Forschung & Entwicklung bei der Schunk GmbH & Co. KG. Das Gespräch führte Sandra Winter, x-technik

„Langfristig gehen wir davon aus, dass Greifer ähnlich wie die menschliche Hand in der Lage sein werden, die Lage und Orientierung der gegriffenen Bauteile in sechs Freiheitsgraden zu manipulieren“, verrät Prof. Dr.-Ing. Markus Glück, Geschäftsführer Forschung & Entwicklung bei der Schunk GmbH & Co. KG.

„Langfristig gehen wir davon aus, dass Greifer ähnlich wie die menschliche Hand in der Lage sein werden, die Lage und Orientierung der gegriffenen Bauteile in sechs Freiheitsgraden zu manipulieren“, verrät Prof. Dr.-Ing. Markus Glück, Geschäftsführer Forschung & Entwicklung bei der Schunk GmbH & Co. KG.

Wo gibt es Ihrer Erfahrung nach bei den Anwendern die größten Sicherheitsbedenken beim Thema kollaborative Robotik? Welche Ängste gibt es da?

Bislang haben wir es noch nicht erlebt, dass Greifer für kollaborative Anwendungen Ängste erzeugen. Vielmehr dominieren Neugierde und Begeisterung – vor allem wenn es sich um intelligente Systeme wie den Schunk Co-act Greifer JL1 handelt. Menschen begegnen dem System spielerisch: Sie testen intuitiv aus, wann die Sicherheitstechnologien anspringen und wie sich das System dann verhält.

Fragen hingegen gibt es oft in Bezug auf die unterschiedlichen Normen und Zertifizierungen. Diese fordern, dass weder eine Maschine beschädigt noch ein Bediener ernstlich verletzt werden darf. Das reicht für den täglichen Einsatz jedoch bei weitem nicht aus. Stellen Sie sich vor, ein MRK-System würde den Bediener 100 Mal am Tag stoßen. Selbst wenn er dabei normgerecht nicht verletzt würde, hätte das System keine Chance auf Akzeptanz.

Will heißen: Szenarien der Mensch-Roboter-Kollaboration müssen jedes Mal neu bewertet und auf ihre Realisierbarkeit, aber auch auf ihre Akzeptanz und Praxistauglichkeit hin untersucht werden. Aus Sicht von Schunk ist es entscheidend, den Menschen in den Mittelpunkt sämtlicher Überlegungen zu stellen und nicht das technische System. Der Werker muss dem Roboter vertrauen. Der Greifer muss sich dem Menschen entsprechend anpassen – nicht umgekehrt.

Mithilfe kapazitiver Sensoren überwacht der Schunk Co-act Greifer JL1 permanent seine Umgebung. Nähert sich eine menschliche Hand schaltet er vollautomatisch in den sicheren Betrieb.

Mithilfe kapazitiver Sensoren überwacht der Schunk Co-act Greifer JL1 permanent seine Umgebung. Nähert sich eine menschliche Hand schaltet er vollautomatisch in den sicheren Betrieb.

Können Sie die „Sicherheitsaura“ beim JL1 ein bisschen genauer beschreiben?

Die im JL1 verbaute Annäherungssensorik registriert Annäherungen von Menschen und ermöglicht eine situationsabhängige Reaktion, ohne dass Mensch und Roboter sich berühren. Sie ist in drei Zonen aufgeteilt: Jeder Finger für sich sowie das Gehäuse bilden jeweils eine eigene Zone und detektieren unabhängig voneinander Annäherungen des Menschen. So ist es möglich, zum Beispiel über das sukzessive Auslösen der Sensorik in den beiden Fingern, die Richtung der Annäherung zu ermitteln und daraus unmittelbar eine Ausweichbewegung des Roboters abzuleiten.

Über die in den Greifer integrierte, frei programmierbare Steuerung können die entsprechenden Reaktionen vorverarbeitet und als Signal an die SPS geschickt werden. So erhält diese beispielsweise den Befehl, die Geschwindigkeit um 25, 50 oder 75 Prozent zu reduzieren oder stehenzubleiben. Auch eine zuvor definierte Ausweichstrategie ist möglich, wenn klar ist, aus welcher Richtung die Annäherung erfolgt. Die einzelnen Reaktionsmechanismen lassen sich individuell definieren und auf die jeweilige Anwendung abstimmen.

Die im Schunk Co-act Greifer JL1 verbaute Annäherungssensorik hebt den MRK-Greifer auf ein neues Level der Akzeptanz. Sie registriert Annäherungen von Menschen und ermöglicht eine entsprechende Reaktion: Anhalten, ausweichen oder den Zeitpunkt des Zugriffs verzögern.

Die im Schunk Co-act Greifer JL1 verbaute Annäherungssensorik hebt den MRK-Greifer auf ein neues Level der Akzeptanz. Sie registriert Annäherungen von Menschen und ermöglicht eine entsprechende Reaktion: Anhalten, ausweichen oder den Zeitpunkt des Zugriffs verzögern.

Welche Art von Sensoren befinden sich beim JL1 im Einsatz?

Technisch nutzen wir mehrere Systeme parallel: Zunächst einmal eine kapazitive Sensorik, sprich es wird ein elektrisches Feld um den Greifer aufgebaut. Sobald etwas stark wasserhaltiges, beispielsweise die menschliche Hand, in dieses Feld eindringt, wird es detektiert. So ist es möglich, die Annäherung von Bauteilen oder anderen Greifern von der Annäherung von Fingern, Händen oder Armen zu unterscheiden. Im Gegensatz zu den am Markt etablierten Möglichkeiten zur Arbeitsraumüberwachung, die eher ein weiteres Umfeld abdecken, ermöglicht die kapazitive Sensorik die unmittelbare Detektion eines engen Radius von 20 cm und damit wirklich closest to the human, bevor es überhaupt zu einem Kontakt kommt.

Eine zweite Ebene bildet die Kraft-Momenten-Sensorik, die im Flansch verbaut ist. Diese registriert, wenn unerwartete Kraftwirkungen auftauchen. Sie dient also dazu, eine effektive Kollision zu bemerken und den Roboter zu stoppen. Außerdem lassen sich Zusatzfunktionen realisieren, beispielsweise können wir ermitteln ob ein Glas voll oder leer ist. Oder ob und wie die Werkstücke gegriffen wurden.

Taktile Sensoren schließlich bilden die dritte Ebene: Sie ermöglichen die Detektion von Objekteigenschaften. Ist das Objekt hart oder weich? Wird gerade ein Glas oder eine Hand gegriffen?

Warum ist der EGP-C ein zertifizierter inhärent sicherer Industriegreifer und der JL1 (noch) nicht? Kommt das noch?

Hier gilt es zu unterscheiden: Inhärent sicher sind beide Greifer, denn sie gewährleisten konstruktiv ohne externe Komponenten, wie etwa Schutzzäune, dass sie sicher arbeiten, sprich Gefährdungen des Menschen ausgeschlossen sind. Davon zu unterscheiden ist die Zertifizierung: Damit die DGUV eine komplette Anlage für den MRK-Betrieb zertifiziert, muss nachgewiesen sein, dass der Bediener bei einem Kontakt nicht verletzt wird. Hier greifen die Schutzprinzipien der DIN EN ISO 10218-1/-2 und DIN EN ISO/TS 15066 sowie die Maschinenrichtlinie, die vorschreibt, dass stets die Gefahr für den Menschen zu betrachten ist.

Es gilt also, sehr präzise zu analysieren, welche Arbeitsräume existieren, welche Risiken konkret bestehen und wo Arbeitsräume daher eingeschränkt werden müssen, um Verletzungen auszuschließen. Hierzu müssen die Applikation, die Aufgabe und die Werkstücke stets individuell betrachtet werden. Auch bei einer zertifizierten Komponente, wie dem Schunk EGP-C, muss also stets die gesamte kollaborierende Anwendung betrachtet werden, also der Roboter mit der gesamten Peripherie. Beim JL1 ist die Zertifizierung der Komponente aktuell per se ausgeschlossen, da die im Greifer verbaute kapazitive Sensorik derzeit noch nicht als funktional sicher zertifiziert werden kann. Wir gehen jedoch davon aus, dass es diese Möglichkeit künftig geben wird, sobald die zuverlässige Funktion hinreichend nachgewiesen ist.

Wie sehen Ihre Zukunftspläne/Visionen für den JL1 aus – Stichwort maschinelles Lernen und auf gelernte Erfahrungen in einer Cloud zurückgreifen?

Zunächst einmal ist der JL1 selbst mit einem vollwertigen Mini-PC ausgestattet, so dass über Hochsprache programmiert alle möglichen Berechnungen unmittelbar auf dem Greifer möglich sind. Data Analytics, also die Auswertung von prozessabhängigen Daten, kann annähernd in Echtzeit unmittelbar auf dem Greifer erfolgen. So lassen sich auch Berechnungen aus Videodaten unmittelbar auf dem Greifer vornehmen, um beispielsweise ein Objekt und dessen Position zu identifizieren. Die multi-direktionale Steuerung des Greifers ist entsprechend der RAMI 4.0 Ansätze konzipiert. Sie greift auf gelernte Erfahrungen zurück, die in einer Cloud abgelegt werden und damit auch anderen, im Prozess vor- oder nachgelagerten Greifern zur Verfügung stehen.

Zugleich können die inline aus den im Fertigungstakt gewonnenen Daten und abgeleiteten Informationen übergeordneten Systemen zur permanenten Prozessverbesserung oder Prozessreglung zur Verfügung gestellt werden. Cloud-Technologien nutzen wir bereits beim sogenannten Smart Gripping, wenn also prozessintegriert Bauteilmerkmale abgefragt und verfolgt werden sollen. Während klassische Systeme auf streng hierarchischen Strukturen aufbauen und Daten meist nur über die SPS abgefragt werden, stehen die Daten beim Smart Gripping unabhängig von der SPS für digitale Dienste bereit. Im Rahmen der Data Analytics kann dann unabhängig von unterschiedlichen Ebenen zugegriffen werden. Über intelligente Bausteine lassen sich so Verbesserungen nach dem Prinzip Knowledge and Actions automatisiert auslösen.

Wie sicher sind selbstlernende Systeme bzw. Greifer und was soll der JL1 künftig selbst entscheiden dürfen?

Beim Thema selbstlernende Systeme müssen wir uns zu allererst von den Horrorszenarien der Filmindustrie verabschieden, denn es geht um sehr viel grundlegendere Funktionen als die Erlangung Weltherrschaft, wie es uns dort suggeriert wird. Konkret stehen beim JL1 zwei Aspekte im Vordergrund: Die Unterstützung des Menschen und das Handling unterschiedlicher Teilevarianten im Wechsel. Mithilfe eigens entwickelter Greifstrategien stimmt der feinfühlige Greifer sein Verhalten in Echtzeit darauf ab, welches Werkstück oder ob womöglich eine menschliche Hand gegriffen wird. Hierfür nutzt der JL1 eine dezentrale Steuerungsarchitektur mit parallel ausgeführten Diagnose- und Sicherheitsfunktionen.

Langfristig gehen wir davon aus, dass Greifer ähnlich wie die menschliche Hand in der Lage sein werden, die Lage und Orientierung der gegriffenen Bauteile in sechs Freiheitsgraden zu manipulieren. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von der Technologie der lnhand-Calibration. Damit werden sich sehr flexible, autonome Greifszenarien realisieren lassen.

Danke für das aufschlussreiche Gespräch.

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