interview

Wir müssen flexibler werden

Angesprochen auf das Thema Industrie 4.0 bringt Univ. Prof. Dr.-Ing. Wilfried Sihn, Geschäftsführer von Fraunhofer Austria, folgendes Bild: Der Digitalisierungszug in Österreich hat den Bahnhof verlassen und nimmt jetzt langsam Fahrt auf. Als Tempomacher empfiehlt er flexiblere Ausbildungs-, Arbeitszeit- und Zusammenarbeitsmodelle und dass wir uns auf unsere wahren Stärken fokussieren. Das Gespräch führte Sandra Winter, x-technik

Wir müssen flexibler werden: Univ. Prof. Dr.-Ing. Wilfried Sihn plädiert für flexiblere Ausbildungs-, Arbeitszeit- und Zusammenarbeitsmodelle. (Fotos ©FhA_Mikes)

Wir müssen flexibler werden: Univ. Prof. Dr.-Ing. Wilfried Sihn plädiert für flexiblere Ausbildungs-, Arbeitszeit- und Zusammenarbeitsmodelle. (Fotos ©FhA_Mikes)

Univ. Prof. Dr.-Ing. Wilfried Sihn
Geschäftsführer von Fraunhofer Austria

„Industrie 4.0 bzw. Digitalisierung funktioniert ohne den Menschen nicht. Denn es ist letzten Endes noch immer der Mensch, der die wegweisenden Entscheidungen trifft.“

Herr Professor Sihn, welche Rolle bleibt dem Menschen im Industrie 4.0-Zeitalter?

Industrie 4.0 bzw. Digitalisierung funktioniert ohne den Menschen nicht. Diese ganze Entwicklung passiert ja nicht aus reinem Selbstzweck, sondern um unseren Wohlstand abzusichern. Um Arbeitsplätze zu erhalten bzw. neue zu schaffen. Ich hörte vor kurzem bei einer Veranstaltung wie die deutsche Wissenschaftsministerin sagte: „Innovation braucht Menschen und Menschen brauchen Innovation.“ Eine Aussage, die ich persönlich sehr treffend fand. Denn es ist letzten Endes noch immer der Mensch, der die wegweisenden Entscheidungen trifft.

Klarerweise gehen aber mit diesem massiven Technologieeinsatz, der teilweise jetzt schon da ist und der vermutlich noch wesentlich stärker kommen wird in Zukunft, erhebliche Veränderungen in unserem Arbeitsumfeld einher. Egal welche Branche und egal welcher Job – wir alle werden uns entsprechend weiterentwickeln bzw. weiterbilden müssen.

Glauben Sie, dass im Zuge der Digitalisierung bestimmte Berufe vom Aussterben bedroht sind?

Nein. Ich wage fast zu behaupten, dass kein einziger Beruf zur Gänze aussterben wird. Um ein „klassisches“ Beispiel zu nennen: Den Lagermitarbeiter, der mit dem Handgabelstapler durch die Halle fährt, wird es auch in 20 Jahren noch geben – aber es werden in x-beliebigen Zahlen ausgedrückt nicht mehr 20.000, sondern vielleicht nur noch 5.000 oder 1.000 sein.

Ich bin überzeugt davon, dass uns alle Berufe, die es heute gibt, bis auf ganz, ganz wenige Ausnahmen in irgendeiner Form erhalten bleiben. Aber sie werden sich verändern. Sie werden sich im Inhalt verändern und sie werden sich im Volumen verändern.

Ist das österreichische Bildungssystem fit für die Anforderungen von morgen?

Ich bin kein Bildungswissenschaftler und schon gar kein Bildungspolitiker, aber man muss sicher kein Prophet sein, um sagen zu können, dass wir unser gesamtes Bildungssystem an der einen oder anderen Stelle deutlich anpassen müssen. Das beginnt im Vorschulbereich und endet auf der Universität und bei allen anderen Ausbildungszweigen. Die derzeit vorherrschenden starren Strukturen sind einfach überholt und wir müssten den jungen Leuten weitaus mehr Flexibilität und Freiraum geben, damit sie sich beispielsweise ihr Studium individuell zusammenstellen können.

Seit zig Jahren gibt es standardisierte Studiengänge für Maschinenbauer, Informatiker, Physiker usw. aber was wir ebenfalls bräuchten wären Absolventen, die eine Maschinenbau-Grundausbildung mit bestimmten Spezialdisziplinen wie beispielsweise Pharmazie, technischer Chemie oder Biologie kombinieren. Das heißt: Man müsste jungen Menschen die Möglichkeit geben, dass sie auch „anders“ studieren können – nämlich so wie es ihren individuellen Interessen und Berufsvorstellungen entspricht.

Derzeit sucht die Branche händeringend nach Automatisierungstechnikern, die gleichzeitig IT-Experten sind, um den Security-Teil besser abbilden zu können – tut sich da was?

Mir ist zu Ihrer Frage der Begriff der Eier legenden Wollmilchsau eingefallen – diese wird es aber nicht geben. Meines Erachtens ist es eine Illusion, davon auszugehen, dass man die Mitarbeiter mit allem vollstopfen kann, von dem wir annehmen, dass es in Zukunft gebraucht werde. Ich persönlich glaube viel eher daran, dass wir je nach Aufgabenstellung kurzfristige Teams aus internen Mitarbeitern und externen Spezialisten zusammenstellen werden. Wobei es eine der Künste der Zukunft sein wird, die richtigen Leute zusammenzubringen.

Das Zustandekommen solcher projektbezogener Kooperationen muss allerdings erheblich vereinfacht werden. Es kann nicht sein, dass ein Experte von außerhalb einen 30-seitigen Fragebogen ausfüllen muss für einen Auftrag, weil er nicht als Lieferant gelistet ist. Das alles muss viel automatischer, flexibler vonstattengehen. Das bedeutet: Auch in unseren Geschäftsprozessen wird sich einiges ändern müssen.

Wie sehen Ihrer Meinung nach Industrie 4.0-taugliche Arbeitszeitmodelle aus?

Wir müssen dann arbeiten, wenn der Markt es erfordert und nicht, weil es jetzt sieben Uhr ist. Das Thema Flexibilisierung wird ein ganz zentrales, strategisches sein. Wir benötigen flexiblere Arbeitszeitmodelle, die für beide Seiten annehmbar sind. Es ist sicherlich nicht akzeptabel, dass ein Mitarbeiter zuhause sitzen und warten muss bis sein Vorgesetzter anruft und sagt: In einer halben Stunde brauche ich dich. Aber wir werden sicherlich weggehen müssen von diesem klassischen starren Arbeitszeitmodell fünf Tage in der Woche so und so viele Stunden.

Sie erwähnten in einer Diskussionsrunde auf der SMART Automation, dass die Universitäten in China pro Monat mehr fertige MINT-Studenten hervorbringen als ganz Europa pro Jahr. Wie begeistert man mehr junge Menschen für die MINT-Fächer?

Es ist eine „alte“ Weisheit, dass die MINT-Affinität im Alter zwischen sechs und zehn Jahren festgelegt wird. Und da bin ich beim Kindergarten bzw. bei der Grundschule. Wir müssen Kinder spielerisch mit diesen Themen in Berührung bringen und im Klassenverbund vermehrt auf digitale Tools setzen, um individuell und gezielt zu fördern bzw. zu fordern.

Hat Österreich oder auch Europa realistisch betrachtet überhaupt eine Chance, im globalen Wettbewerb auf lange Sicht mit China, Japan oder den USA Schritt zu halten?

Ja, wenn wir uns auf unsere Stärken konzentrieren. Es wird nicht viel bringen, wenn wir versuchen, in die Domänen von Google oder Amazon vorzudringen, aber im Maschinenbau oder auch in der Automobilzulieferindustrie ist Österreich ganz vorne mit dabei. In diesen Bereichen haben wir alle Trümpfe in der Hand, um erfolgreich zu sein bzw. zu bleiben – wir müssen diese „nur“ nutzen. Wir haben die entsprechenden Fachkräfte und Ingenieure, um mit neuen Technologien, neue Geschäftsmodelle und neue Leistungsangebote zu generieren.

Wir brauchen also lauter höher Qualifizierte?

Sie haben jetzt ein falsches Wort gesagt: Lauter. Wir brauchen nicht „lauter“, aber wir brauchen immer mehr höher Qualifizierte, die mit diesen hochkomplexen Systemen umgehen können.

Wie bleiben Mitarbeiter „up to date“? Hat der Arbeitgeber dafür zu sorgen oder liegt das in der Eigenverantwortung des Arbeitnehmers?

Ich glaube, dass das eine gegenseitige Geschichte ist. Wobei es oftmals das Problem gibt, dass die Mitarbeiter kaum über die strategischen Weiterentwicklungspläne ihrer Arbeitgeber Bescheid wissen. Das ist in kleineren Unternehmen fast noch einfacher: Da weiß jeder, was der Chef denkt und da wird in den Pausen darüber gesprochen, welche Technologien oder welche Kompetenzen man für dieses oder jenes bräuchte. In größeren Firmen geht dieser direkte Kommunikationsweg vielfach verloren.

Grundsätzlich sollte sich jeder Mitarbeiter darüber im Klaren sein, dass Veränderungen und neue Technologien auf ihn zukommen werden und dass er sich entsprechend weiterbilden muss. Der Arbeitgeber wiederum hat die Pflicht, lenkend einzugreifen und beispielsweise mit entsprechenden Schulungsangeboten darauf hinzuweisen, in welche Richtung die „Digitalisierungsreise“ geht.

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